Schünemann教授此文,對台灣最近關於檢察制度的爭議、癥結乃至對症下藥的解決方案,均多有啟發。(講述戰後德國檢察官查案故事 Labyrinth Of Lies電影劇照/圖片取自時光網)
Zur Stellung der Staatsanwaltschaft im postmodernen Strafverfahren
Professor Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann, Universität München
publiziert in: Herzog/Schlothauer/Wohlers (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Edda Weßlau, 2016, S. 351 ff.
1. Ich beginne mit einer knappen Übersicht über die Wesenszüge der postmodernen Gesellschaft, die zugleich die Erklärungsgründe für ihre spezifischen Kriminalitätsformen und für die enormen Wandlungen des in ihr praktizierten Strafverfahrens liefern soll.
„Die postmoderne Gesellschaft ist eine durch und durch industrialisierte und urbanisierte Massengesellschaft mit vier großen Insignien: Alles ist vorfabriziert und produziert und degeneriert dadurch zum billigen Konsumgut; alles ist beliebig und degeneriert dadurch zum rasenden Stillstand des sinnlosen Kreislaufs einer rein ökonomisch kalkulierten Mode; alles wird in Unterhaltung verwandelt und verliert damit den Ernst der wirklichen Persönlichkeitsentfaltung; Öffentlichkeit und Nachbarschaft zerfallen in eine Sequenz massenmedial erzeugter Scheinwelten, durch die zuletzt ein in seiner Privatheit vereinzeltes, narzißtisches, larmoyantes und egoistisches Individuum zurückbleibt, dessen in Wahrheit infantile Lebensformen durch den massenmedial verbreiteten Nebel der längst sinnentleerten kulturellen Parolen des 19. Jahrhunderts bemäntelt werden und dem auf diese Weise die manipulative und industrielle Erzeugung seiner nur scheinbar individuellen Lebensform verborgen bleibt.“[6]
Natürlich will ich nicht behaupten, dass es in der postmodernen Gesellschaft nicht auch noch kulturelle Nischen geben würde, in denen Reste der bildungsbürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts überlebt hätten. Aber für meine gegenwärtige Analyse kommt es mir allein auf die beherrschenden Züge an, also darauf, was die postmoderne Welt im Innersten zusammenhält.
2. In einer Gesellschaft, deren Moral pluralistisch oder, genauer gesagt, individuell-hedonistisch ist, entwickeln sich letztlich alle Konflikte zu rechtlichen Konflikten und die rechtlichen Konflikte wiederum typischerweise zu strafrechtlichen Konflikten, weil das Wirtschaftsleben als das wichtigste Konfliktsfeld eine enorme strafrechtliche Regelungsdichte aufweist, weil zivilrechtliche Konfliktslösungen den Betroffenen aus zahlreichen Gründen nicht hinreichend attraktiv erscheinen und weil eine wirksame Eliminierung des Gegners, um die es etwa auch im politischen Feld häufig geht, in einer in jeder anderen Hinsicht permissiven Gesellschaft nur noch mit dem Mittel des Strafrechts möglich erscheint. Parallel dazu, aber aus den gleichen Gründen hat sich ein riesiges Feld von – wie ich es nennen möchte - borderline-Kriminalität entwickelt, die sich dadurch auszeichnet, dass trotz oder eher sogar wegen der erwähnten Regelungsdichte im Wirtschaftsstrafrecht ein ausgedehnter Bereich von ökonomischen Verhaltensweisen in einem potentiell kriminellen (d. h. in der Abgrenzung diffusen) Bereich verläuft, im Interesse der hier besonders vielversprechenden Profitmaximierung aber von einem homo oeconomicus unbedingt riskiert werden muß. Ob bei wirtschaftlich riskantem Verhalten ein im Prinzip einschlägiger Straftatbestand zur Hand ist und wo dessen genaue Grenze verläuft, hängt deshalb zu einem erheblichen Grade von der Phantasie des zuständigen Juristen ab, der ein unübersehbar komplexes und kompliziertes Geschehen in Richtung auf ein zur Subsumtion unter eine Strafrechtsnorm taugliches Sachverhaltsgerippe selektiert[7]. Aber das lässt sich beileibe nicht so deutlich ausmachen wie das Vorliegen eines Mordes, wenn der Erbonkel mit einem Messer in der Brust gefunden wird, und die Aufgabe, nach Jahr und Tag in die unendlich verwickelten Abläufe des Wirtschaftsgeschehens eine hierin jeden vernünftigen Zweifel ausschließende Klarheit zu bringen und also ex post zur materiellen Wahrheit vorzudringen, kann in dem unserer heutigen Strafprozessordnung immer noch zugrunde liegenden Strukturmodell des im 19. Jahrhundert entwickelten reformierten Strafverfahrens bestenfalls in Einzelfällen, nicht aber für die große Masse der ökonomischen borderline-Kriminalität bewältigt werden.
3. Das ist natürlich schon oft beschrieben worden, eigenartigerweise jedoch bei Betrachtungen zur Stellung der Staatsanwaltschaft zugunsten einer aber und aber wiederholten Umwälzung der Probleme des 19. Jahrhunderts aus dem Blickfeld geraten. Daneben sind zwei weitere Haupteigenarten der Kriminalität der postmodernen Gesellschaft sowohl für die Stellung der Staatsanwaltschaft folgenschwer geworden als auch für die Veränderungen des Strafverfahrens, die zur einen Hälfte als Reaktion auf die gewandelte Kriminalitätsstruktur zu verstehen und zur anderen Hälfte direkt durch die Verschiebungen in der der Kriminalität wie auch dem Strafverfahren selbst zugrunde liegenden gesellschaftlichen Basis ausgelöst worden sind:
a) In Idealtypen gesprochen, hat die Ablösung des am kantischen Ideal der Pflichterfüllung orientierten Subjekts durch den egoistischen Nutzenmaximierer zu einer unübersehbaren Fülle von Bagatellkriminalität, aber auch sonstiger Kriminalität geführt, die in einem weit über die alte Sentenz von Durkheim hinausweisenden Sinne Kriminalität als normal erscheinen lässt.[8] Diese Kriminalitätsstrukturen und die Normalität der Kriminalität in der postmodernen Gesellschaft haben notwendig eine Verfahrensflut und (bei der Wirtschaftskriminalität) eine weder von den bescheidenen organisatorischen Ressourcen der Justiz verkraftbare noch mit der Idee der Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung vereinbare Verfahrensdauer ausgelöst, die eine vor allem in der Praxis entwickelte und durch legislatorische Maßnahmen abgesegnete Umgestaltung des reformierten Strafverfahrens erzwungen haben.
b) Ist es also auf der einen Seite die Normalität des abweichenden Verhaltens, die den Infarkt der traditionellen Strafrechtspflege ausgelöst hat, so ist es auf der entgegengesetzten Seite die geradezu kriegerische moralische und technische Aufrüstung unserer sonst so permissiven Gesellschaft zwecks Bekämpfung der für eine sinnentleerte und viele Alkoholmilieus substituierende Gesellschaft normalen Rausch- und Aufputschmittelmilieus, die zugleich die die postmoderne Gesellschaft kennzeichnende organisierte Kriminalität schafft oder zumindest begünstigt und dadurch wiederum Interventionsbedürfnisse erzeugt hat, die in den Formen des reformierten Strafprozesses nicht mehr exekutierbar waren und die deshalb zu völlig neuen, geheimdienstähnlichen Verfahrensformen geführt haben, die ebenfalls vielfältig beschrieben, jedoch abermals bei den Erörterungen zur Stellung der Staatsanwaltschaft zu wenig berücksichtigt worden sind.
3. Alle diese drei radikalen Transformationserscheinungen im kriminalisierten Verhalten der postmodernen Gesellschaft haben nun freilich nur deshalb dem aus dem 19. Jahrhundert überkommenen reformierten Strafprozess so umstandslos und so multipel teils durch die Gesetzgebung, teils durch eine ohne gesetzliche Grundlage erfolgende Umstürzung der Prozesswirklichkeit das Rückgrat brechen können, weil die dabei angewandten Methoden bruchlos in die ideologischen Grundlagen der postmodernen Gesellschaft einfügbar gewesen sind. Was wir in den letzten 40 Jahren an gesetzlichen und außergesetzlichen Änderungen des Strafverfahrens beobachten konnten, muss rückblickend als eine geradezu zwangsläufige Emanation aus diesem – wenn ich so sagen darf – ideologischen Plasma der postmodernen Gesellschaft erscheinen, gegenüber der der regelmäßig erschallende Protest der Strafprozeßrechtswissenschaft folglich nicht nur ergebnislos verhallen musste, sondern nicht einmal akustisch richtig wahrgenommen wurde. Ich muss mich auch insoweit auf die beiden wichtigsten Züge beschränken, nämlich auf die Ersetzung einer von Werten an sich ausgehenden, sozusagen absoluten Betrachtungsweise durch eine ausnahmslos instrumentelle und damit relative, und ferner auf die Bereitschaft, aus allem ein bargain (ein Geschäft) zu machen, d.h. – in soziologischer Redeweise – traditionelle Wertkonflikte in Interessenkonflikte zu transformieren und deren Lösung im Wege des Aushandelns zu suchen.
a) Zunächst ein paar Worte zur totalen Instrumentalisierung. In einer nicht abreißenden Kette von Gesetzen sind den Strafverfolgungsbehörden nach und nach alle Machtmittel in die Hand gegeben worden, die nach Meinung von Polizeiexperten zur Bekämpfung der spezifischen Kriminalitätsformen der postmodernen Gesellschaft erforderlich sind, wodurch die klassischen Zwangsmittel wie Untersuchungshaft, Durchsuchung und Beschlagnahme durch Lauschangriffe, Video- und Computerüberwachung, durch Gentest und -datei, durch den Einsatz verdeckter Ermittler und Rasterfahndung sowie durch die in Wirtschaftsstrafsachen enorm effektive Sicherstellung für Verfall etc. und Rückgewinnungshilfe komplettiert worden sind, um nur einige beispielhaft zu nennen. Die auf breiter Front etablierte sog. Verpolizeilichung des Ermittlungsverfahrens, der weitgehende Informationsverbund zwischen vorbeugender Verbrechensbekämpfung und repressiver Strafverfolgung, die Hereinnahme des gesamten geheimdienstlichen Instrumentariums in den Strafprozess ist so oft beschrieben worden, dass ich mir eine Wiederholung hier ersparen kann, zumal es mir ja nicht um eine Bewertung dieser Vorgänge, sondern zunächst einmal nur um deren Auswirkungen auf die Stellung der Staatsanwaltschaft geht. Für meine weiteren Überlegungen unverzichtbar sind nur zwei Feststellungen, nämlich dass das Strafverfahren selbstverständlich geeignet sein muss, auch bezüglich der im Strafgesetzbuch erfaßten modernen oder postmodernen Kriminalitätsformen eine Aufklärung und Aburteilung zu ermöglichen, dass aber ebenso selbstverständlich auch die Rückwirkungen einer etwa zu diesem Zweck durchzuführenden Aufrüstung der Strafverfolgungsbehörden auf die Gesamtbalance des Strafverfahrens analysiert und dementsprechend nötigenfalls auch ganz neue Ausbalancierungen hinzugefügt werden müssen – an sich eine bare Selbstverständlichkeit, die die Phantasie von Bundesjustizministerium und Gesetzgeber freilich bisher nur immer wieder an die Figur des Ermittlungsrichters erinnert hat, während andererseits die zahlreichen Kritiker dieser ganzen Entwicklung die Frage der Ausbalancierung zugunsten ihrer Fundamentalopposition weitgehend ignoriert haben.
b) Um exemplarisch wenigstens auf eine in Wahrheit sich selbst ad absurdum führende Übersteigerung des Instrumentalismus hinzuweisen: Der Gedanke, eine Straftat mit Hilfe eines vom Staat beauftragten Agent Provocateur erst hervorzubringen, sie anschließend mit dessen Hilfe als eines nur mittelbar vernommenen verdeckten Ermittlers triumphierend aufzuklären und zu unguter Letzt unter einer vom BGH großmütig konzipierten Strafmilderung[9] (in einer mühsam vor der Garantie des fair trial und der Rechtsprechung des EGMR gerechtfertigten Weise[10]) abzustrafen, macht selbst innerhalb einer instrumentellen Denkmethode keinen Sinn, denn wenn die Strafrechtspflege die von ihr abgeurteilten Delikte erst zu diesem Zweck selbst hervorruft, reduziert sich ihr rationaler Zweck auf Arbeitsbeschaffung, und sie müßte dann eigentlich nicht im Justiz-, sondern im Arbeitsministerium ressortieren. Man wende dagegen bitte nicht ein, dass ja der BGH den Lockspitzeleinsatz nur dort akzeptiere, wo der zur Tat Verführte schon vorher verdächtig sei,[11] denn dieser Verdacht kann sich ja immer nur auf andere Straftaten beziehen und deshalb an der intellektuellen Perversion des ganzen Konzepts nicht das geringste ändern. Wenn der 2. Strafsenat das nunmehr vom EGMR energisch eingeforderte Beweisverwertungsverbot[12] durch die Proklamation eines Verfahrenshindernisses zu übertreffen versucht (wohlgemerkt ohne die allermindestens notwendige Beschränkung auf BtM-Verfahren!)[13], hat er freilich den Teufel durch Beelzebub ausgetrieben, was spätestens bei einem (angesichts der NSU-Affäre nicht gänzlich undenkbaren) Mord auf Bestellung durch einen staatlichen UCA offensichtlich sein wird. Da die (vom 2. Strafsenat ignorierte) aus dem geltenden Recht allein ableitbare Doppellösung, entweder bei abstrakten Gefährdungsdelikten wie § 29 BtMG bei ausreichender staatlicher Kontrolle für den Täter wie für den Lockspitzel einen Tatbestandsausschluss wegen absoluter Ungefährlichkeit oder aber eine Verfolgung beider in vom fair trial gebotener Verfahrensverbindung zu statuieren[14], den von der Strafverfolgung erfundenen modus operandi seines Erfolges berauben würde, hätte die Rechtsprechung den gordischen Knoten schon längst an den Gesetzgeber weiterreichen müssen, anstatt unter Überschreitung ihrer Kompetenz einem rein instrumentellen Denken zu huldigen, dessen durchaus treffende Umschreibung mit der Formel „Der Zweck heiligt die Mittel“ heute sicherlich politisch unkorrekt wäre - getreu der für die politische Kultur der postmodernen Gesellschaft gültigen Maxime, dass sich die political correctness nicht nach der Sache, sondern nach der Formulierung bestimmt.
c) Geradezu eine Potenzierung der instrumentellen Vernunft ist durch die Kombination von Zwang und Drohung mit „Pseudo-Bargaining“ erzielt worden, d. h. durch den (mit dem fast macht- und dadurch wehrlosen Beschuldigten getriebenen, die implizite Fairnessbedingung der Gleichordnung verfehlenden und deshalb Pseudo-)Handel zur Ausmanövrierung strafprozessrechtlicher Fesseln. Der vielfach ziemlich ungenierte Einsatz der Untersuchungshaft zur Sachverhaltsaufklärung ist vor 20 Jahren im sog. Münchener Bestechungssumpf zu einer perfekten Methode des strafprozessualen Dominospiels weiterentwickelt worden, indem man dann, wenn man Haftrichter fand, die zu einer Anwendung der Haftgründe der Flucht- oder Verdunkelungsgefahr auf solide sozialisierte bayerische Manager und Kommunalbeamte bereit waren, nach dem Muster: „Haftentlassung und milde Strafe gegen doppeltes Geständnis der alten sowie einer neuen, bezüglich des Geständigen sogleich nach § 154 StPO einzustellenden weiteren Tat unter Preisgabe ihrer Mittäter“[15] auch ohne verdeckte Ermittler ganze Kriminalitätsfelder aufrollen konnte.
III. Der unaufhaltsame Machtaufstieg der Staatsanwaltschaft
1. Das durch dieses Beispiel illustrierte beständige Wachstum der innerprozessualen Machtstellung der Staatsanwaltschaft und damit eine immer weiter eskalierende Verschiebung der prozessualen Balance wurde schon gut 20 Jahre früher durch Maßnahmen des Gesetzgebers eingeleitet, nämlich durch die Abschaffung der gerichtlichen Voruntersuchung und die Einführung des „Freikaufverfahrens“ in Gestalt der Einstellung gegen Auflagen gem. § 153 a StPO.[16] Während die Strafprozessrechtswissenschaft die sozusagen dammbrechende Bedeutung der Ausdehnung des Opportunitätsprinzips durch ein Freikaufverfahren bei allen Vergehen und die darin liegende Übertragung richterähnlicher Funktionen auf die Staatsanwaltschaft durchaus erkannte und zunächst einen heftigen Protest artikulierte,[17] der aber an der Unempfindlichkeit von Gesetzgebung und Praxis abprallte, ist die prozessstrukturelle Stellung der gerichtlichen Voruntersuchung und dementsprechend auch ihrer Abschaffung nur vereinzelt hervorgehoben[18] und mittlerweile weitgehend vergessen worden. Wegen der enormen Bedeutung dieser Aufteilung der Ermittlungskompetenzen vor der Hauptverhandlung auf zwei verschiedene Organe[19] nicht nur für die Objektivität und damit die Güte der prozessualen Wahrheitsfindung und der darauf aufbauenden Entscheidungen, sondern vor allem für die prozessuale Machtbalance hätte ihre Abschaffung selbst der Ausbalancierung bedurft, aber daran hat niemand gedacht[20]. Denn eine effektive innerprozessuale Kontrolle der staatsanwaltschaftlichen Macht findet nicht mehr statt: Die Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO wird angesichts der extrem hohen formellen Hürden, die die Oberlandesgerichte dem Verletzten im Klageerzwingungsverfahren aufgebaut haben[21], nur in Extremfällen materiell überprüft. Die Opportunitätseinstellung ist nach der Rechtsprechung des BVerfG „opferfest“[22], in den Fällen des § 153 I, 2 StPO auch „gerichtsfest“ und findet auch sonst in fast allen Fällen im Flaschenhals anderer Hauptverhandlungen ächzende und deshalb zustimmungsbereite Richter. Dasselbe gilt für den notorisch als Kontrollinstanz, namentlich bei Grundrechtseingriffen, vorgesehenen Ermittlungsrichter, der die notwendige Prüfungstiefe schon aus Zeitgründen nicht leisten kann[23] und sich auch scheuen wird, dem staatsanwaltlichen Ermittlungskonzept in den Arm zu fallen, weshalb er in der Praxis regelmäßig nur eine Art Apostille ausstellt[24].
2. Aber genügt es denn nicht als Kontrolle, dass die Staatsanwaltschaft schließlich keine endgültigen Entscheidungen contra reum treffen und ihre möglicherweise verzerrte Beurteilung des Ermittlungsergebnisses durch das Gericht im Zwischenverfahren korrigiert werden kann, von dem richterlichen Urteilsmonopol ganz abgesehen? Bei einer rein normativen Betrachtung im Sinne von Art. 19 IV GG zweifellos, aber bei der rechtspolitischen Beurteilung muss die empirische Realisierbarkeit berücksichtigt werden. Hierzu möchte ich vollständig auf meine an anderer Stelle publizierte Untersuchungen zum Schulterschluss- sowie zum inertia- oder Perseveranz-Effekt verweisen[25], kraft derer der Richter das Beweisergebnis der Hauptverhandlung unbewusst nicht mehr streng neutral, sondern in einer in Richtung der Anklagehypothese verzerrten, asymmetrischen Form beurteilen wird und die deshalb den Blick auf das ganze Ausmaß nicht nur der realen staatsanwaltschaftlichen Machtstellung, sondern auch auf die verheerenden Konsequenzen einer nicht objektiven Bewertung der Ermittlungsergebnisse durch den Staatsanwalt öffnen. Die Entscheidung über die Anklage, die allein der Staatsanwalt trifft, ist deshalb nicht irgendeine beliebige Zwischenentscheidung, sondern sie ist für das gesamte Verfahrensergebnis von schlechthin ausschlaggebender Bedeutung, wie übrigens auch die deutsche Freispruchsquote zeigt, die mittlerweile weniger als 4 % ausmacht gegenüber beispielsweise 30 % im amerikanischen Juryverfahren.[26]
3. Dasselbe Ergebnis zeitigt auch die sich seit 3 Jahrzehnten unter dem Schlagwort des „Funktionswandels des Vorverfahrens zum heimlichen Zentrum des Strafverfahrens“ ausbreitende, auf eine sozialpsychologische Verankerung verzichtende und in diesem Sinne „behavioristische“ Erkenntnis, dass die Würfel eines Strafverfahrens meistens schon im Ermittlungsverfahren fallen[27] und dass die Hauptverhandlung, insofern sie zur eigentlichen Aufklärung der postmodernen Kriminalität nicht mehr geeignet ist, zu einer Art von zeremonieller Absegnung der im Ermittlungsverfahren erzielten Ergebnisse degeneriert. Aus dieser strafprozesssoziologischen Sicht kann es freilich nicht Wunder nehmen, dass zunächst die Praxis und anschließend der Gesetzgeber endgültig die Axt oder besser gesagt die Motorsäge an die Wurzel der Hauptverhandlung und damit des reformierten Strafverfahrens überhaupt gelegt haben, indem sie durch die, wie ich anderweitig dargelegt habe,[28] ursprünglich contra legem erfolgte und erst nach rund 30 Jahren vom Gesetzgeber legalisierte Etablierung der Urteilsabsprachen den aus ihrer Sicht überflüssig gewordenen Krimskrams einer ehrlich gemeinten Beweisaufnahme beseitigt und kurzerhand die Anerkennung der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens durch den Angeklagten zur Basis eines Urteils genommen haben, das gegenüber der Anklageentscheidung des Staatsanwalts keine zusätzlichen Richtigkeitsgarantien mehr aufzuweisen vermag, weil die (euphemistisch als „Konsens“ bezeichnete) Unterwerfung des Angeklagten durch eine drastische oder zumindest als drastisch hingestellte Strafmilderung erkauft wird[29] - was naturgemäß die Androhung einer strengen Strafe für den Fall einer nach gesetzmäßiger Hauptverhandlung erfolgenden Verurteilung zur Kehrseite und durch diese Mischung von Verlockung und Erpressung nun freilich den Boden des reformierten Strafverfahrens endgültig verlassen hat und wieder auf Methoden des Inquisitionsprozesses zurückgreift, wobei der äußerliche Unterschied zur damals praktizierten physischen Folter (die mit dem Vorzeigen der Instrumente als Drohung begann !) lediglich die generelle Humanisierung des Strafverfahrens widerspiegelt, das ja auch im Urteilsergebnis die bestialische Hinrichtung durch die Aufhebung der Fortbewegungsfreiheit ersetzt hat.
4. Die Etablierung der Urteilsabsprachen, in denen die beherrschenden ideologischen Züge der postmodernen Gesellschaft, nämlich das rein instrumentelle Denken und die Verwandlung der gesamten Gesellschaft in einen Marktplatz, geradezu archetypisch kulminieren[30], hat jedenfalls der Staatsanwaltschaft einen abermaligen Machtzuwachs beschert und gleichzeitig die Residualgarantien für die Wahrheitsfindung, die die traditionelle Hauptverhandlung noch bereithalten mochte, abermals reduziert: Die Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft wird umstandslos in eine Verurteilung umgesetzt, die von ihr gestalteten Ermittlungsakten dienen dem Gericht als alleinige Beurteilungsgrundlage, und gegen den Widerspruch der Staatsanwaltschaft kann es nach der gesetzlichen Klarstellung in § 257c III, 4 StPO nicht zu einer Absprache kommen.
5. Auch die Verpolizeilichung des Ermittlungsverfahrens bietet natürlich keine Anhaltspunkte für eine Ausbalancierung der staatsanwaltlichen Macht, im Gegenteil. Denn auch wenn die Polizei in weiten Bereichen das Ermittlungsverfahren weitgehend selbständig führt, ist sie ja doch bei der Erwirkung von Zwangsmitteln, von Ausnahmen abgesehen, auf die Staatsanwaltschaft angewiesen, so dass die Staatsanwaltschaft hierbei das Heft immer wieder in die Hand bekommt. Und mehr noch: Die Polizei mag sich noch so sehr ins Zeug legen, sie mag selbst gegenüber der Staatsanwaltschaft nach Möglichkeit mit verdeckten Karten spielen, die allein ausschlaggebende Entscheidung über die Anklageerhebung wird schließlich doch allein von dieser getroffen, so dass in Abwandlung des Dictums von Carl Schmitt, dass die Souveränität bei demjenigen liege, der über den Ausnahmezustand entscheidet,[31] allein die Staatsanwaltschaft fürwahr die souveräne Herrin des Ermittlungsverfahrens ist. Das lässt sich besonders schön an typischen Maßnahme der heutigen Polizeitaktik zeigen, dem Einsatz von anonym bleibenden V-Leuten oder von Lockspitzeln: Von ihrer originären Einschaltung in die Anordnung ganz abgesehen, brauchte die Staatsanwaltschaft nur von einer Anklageerhebung auf einer derartig fragwürdigen Grundlage abzusehen, und der ganze Spuk würde sich in Nichts auflösen.
III. Ergebnis der Bestandsaufnahme
Aufgrund der bisherigen Überlegungen lässt sich festhalten, dass das Ergebnis eines Strafverfahrens zum allergrößten Teil von dem Verhalten der Staatsanwaltschaft abhängt. Bei einer Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO versteht sich das sowieso; bei einer Einstellung nach § 153 oder § 153 a StPO ist die Staatsanwaltschaft der alles entscheidende Faktor, weil die vom Gesetz vorgesehene gerichtliche Kontrolle in der Praxis de facto äußerst schwach ausfällt und beispielsweise die notorische Ausdehnung des § 153 a StPO in den Bereich gravierender, aber rechtlich oder tatsächlich zweifelhafter Wirtschaftskriminalität nicht hindern konnte, obwohl selbst die vom Gesetzgeber vorgenommene Erweiterung des Wortlauts, daß die „Schwere der Schuld nicht entgegenstehen“ dürfe[32], diese Fälle eines echten Vergleichsabschlusses über eine präsumtiv große, aber schwer nachweisbare Schuld nicht abdeckt. Bei den auf eine Absprache gegründeten Urteilen hat die Staatsanwaltschaft zumindest eine Blockadeposition, und schließlich ist auch ihr Einfluß auf ein nach einer klassischen Hauptverhandlung ergehendes Urteil vermöge des Perseveranz- und des Schulterschlußeffektes beträchtlich. Im Strafprozeß der postmodernen Gesellschaft hat die Staatsanwaltschaft mit anderen Worten die ihr im reformierten Strafprozeß zugedachte Wächterrolle weithin in eine Herrenrolle transformiert, wodurch das richterliche Entscheidungsmonopol untergraben und die prozessuale Machtbalance[33] gesprengt worden ist.
IV. Konsequenzen für die Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft
Ich komme damit zum letzten Teil meiner Überlegungen, in dem es darum geht, aus der Bestandsaufnahme über die faktische Stellung der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren der postmodernen Gesellschaft rechtspolitische Konsequenzen für ihre Rechtsstellung abzuleiten. Hierbei will ich zunächst in aller Kürze den traditionellen Kanon abarbeiten, um mich dann abschließend noch etwas kühneren Betrachtungen hinzugeben.
1. a) Die bis zu der Forderung nach richtergleicher Unabhängigkeit geführte Auseinandersetzung um das interne und externe Weisungsrecht,[34] also um das Weisungsrecht innerhalb der Staatsanwaltschaft bzw. des Justizministers, mochte so lange einleuchten, wie man nur das alte Klischee des Gesetzeswächters im Auge hatte, denn ein Wächter kann ja nichts Böses tun, sondern höchstens etwas Gutes unterlassen, und wenn er seine Anweisungen vollständig vom Gesetz erhält, kann eine Anweisung von dritter Seite nur dubios wirken. Gegenüber einem so machtvollen Organ, das meine Überlegungen zu Tage gefördert haben und man fast mit Montesquieus Worten als eine „furchtbare Gewalt“ ansprechen möchte, ist aber in einem rechtsstaatlichen Gemeinwesen eine eng geführte Kontrolle unerläßlich, die die von mir bisher betrachteten innerprozessualen Mechanismen nicht zu leisten vermögen.
b) Eine effektive Kontrolle des in einem konkreten Verfahren agierenden Staatsanwalts wird also von dem Rollengefüge der StPO nicht garantiert, ist aber unerläßlich. Selbst die unabhängigen Gerichte werden schließlich in unserem Staat noch kontrolliert, die Untergerichte im Instanzenzug und die Obergerichte in einer freilich über den entschiedenen Einzelfall hinausgreifenden Weise durch eine darin ihre vornehmste Aufgabe findende dogmatische Rechtswissenschaft[35]. Das Weisungsrecht als Kontrollinstrument innerhalb der Staatsanwaltschaft gem. §§ 146, 147 Nr. 3 GVG ist deshalb im Prinzip nicht dubios, sondern sachgemäß, zumal der oben für den Richter angesprochenen Inertia-Effekt ebenso die Fixierung des sachbearbeitenden Staatsanwalts auf seine eigenen Ermittlungshypothesen befürchten lässt..
c) Die Besorgnis, daß das Weisungsrecht des Justizministers zu einer politischen Einflußnahme mißbraucht werden könnte, liegt zwar angesichts der von mir eingangs angeführten, überragenden Bedeutung des Strafrechts in der postmodernen Gesellschaft nahe, ist aber auf der normativen Ebene unbegründet, weil das staatsanwaltschaftliche Verhalten ja außerhalb des Opportunitätsprinzips so gut wie umfassend von Strafrechtsmauern umgeben ist – entweder von § 258 a StGB (Strafvereitelung im Amt) oder von § 344 (Verfolgung Unschuldiger) bzw. sogar § 339 StGB (Rechtsbeugung), so dass eine falsche Weisung ein strafbares Verhalten abverlangen würde und deshalb nach Beamtenrecht von vornherein unwirksam wäre.[36] Weil ein Staatsanwalt aus diesem Grunde bei einer Kontroverse über die Rechtslage praktisch immer die Befolgung der Weisung ablehnen könnte (aus seiner Perspektive sogar müsste), sind zur Ergänzung des Weisungsrechts das Devolutions- und das Substitutionsrecht (§ 145 Abs. 1 GVG) unverzichtbar, wenn der vorgesetzte Beamte überhaupt die Möglichkeit haben soll, seine Beurteilung der Sach- und Rechtslage auch durchzusetzen. Dadurch, dass der Justizminister diese Rechte nach zutreffender Auffassung nicht besitzt[37], sondern auf sein Weisungsrecht aus § 147 Nr. 1 und 2 GVG beschränkt bleibt, ist seine Stellung gegenüber dem Generalbundes- bzw. -staatsanwalt also in rechtlicher Hinsicht ziemlich schwach, was auch seine Möglichkeiten zu einem politischen Mißbrauch stark einschränkt. Man mag dieser Gefahr durch die vielfach vorgeschlagene obligatorische Schriftlichkeit der Weisungserteilung noch weiter steuern, muss sich aber natürlich darüber im klaren sein, daß das eigentliche Problem im vorauseilenden Gehorsam des Staatsanwalts liegt und deshalb bei einem noch Karrierehoffnungen hegenden Sachbearbeiter weitaus größer ist als bei dem üblicherweise am Ende seiner Karriere angekommenen Generalbundes- oder -staatsanwalt – freilich nur dann, wenn dieser kein politischer Beamter ist (dazu sogleich), und auch vorbehaltlich hinzukommender parteipolitischer Bindungen oder Aufstiegsmöglichkeiten. Diese Einflußquelle kann aber ohnehin nur durch sonstige Kontrollinstrumente eingedämmt werden, auf die ich abschließend zu sprechen kommen werde.
2. Was die früher nicht überall (vor allem nicht in den süddeutschen Ländern) statuierte Stellung der Generalstaatsanwälte, in Hessen früher auch der Behördenleiter als politische Beamte anbetrifft, die vom Justizminister jederzeit in den einstweiligen Ruhestand versetzt und wegen dieser Vulnerabilität u. U. auch außerhalb einer förmlichen Weisung gefügig gemacht werden können, so bietet meine Analyse keine Veranlassung, von der überwiegend im Schrifttum zu findenden Kritik an dieser Regelung[38] Abstand zu nehmen. Gerade der enge Spielraum für eine ministerielle Weisung scheint mir deutlich zu machen, daß die Kontrollbedürfnisse nicht in der politischen Dimension liegen. Die wenigen, aber besonders prekären Fälle, in denen in der Vergangenheit ein Generalstaatsanwalt seines Amtes enthoben wurde, zuletzt der Fall des sich einem rechtswidrigen Ansinnen des Bundesjustizministers widersetzenden Generalbundesanwalts[39], lassen sogar eine Interpretation des verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 GG) im Sinne eines Verbots der Einordnung von Staatsanwälten in die Kategorie der politischen Beamten geboten erscheinen[40]. Denn politische Beamte sind nach § 30 BeamtStG die Inhaber eines Amtes, bei dessen Ausübung sie „in fortdauernder Übereinstimmung mit den grundsätzlichen politischen Ansichten und Zielen der Regierung“ stehen müssen, und wenn man das Amt des Staatsanwalts mit dem BVerfG innerhalb der Justiz einordnet[41] oder ihn als ein Organ der Rechtspflege qualifiziert, muss die Einordnung eines Generalstaatsanwalts oder gar eines Leitenden Oberstaatsanwalts als eines politischen Beamten schon auf der semantischen Ebene abstrus erscheinen. Das respektiert zwar mittlerweile die Gesetzgebung der Bundesländer, doch könnte sich diese Tendenz auch wieder einmal umkehren, und deshalb sollte man aus der Zuordnung zur Rechtspflege definitive Konsequenzen ziehen und jegliche Einordnung als politischer Beamter am Rechtsstaatsprinzip scheitern lassen.
3. Die Frage der Bindung des Staatsanwalts an die höchstrichterliche Rechtsprechung ist, ihrer recht geringen praktischen Bedeutung zum Trotz, fast ein Modethema der strafprozeßrechtlichen Literatur und 1964 sogar vom „Deutschen Juristentag“ zum Gegenstand der zweijährigen Vereinstreffen gemacht worden. Ich muss mich hier auf die Feststellung beschränken, dass die von mir herausgearbeitete qualifizierte Machtstellung der Staatsanwaltschaft kein Argument für die vom Bundesgerichtshof[42] im Widerspruch zur herrschenden Lehre[43] bejahte Bindungswirkung ergibt, weil beispielsweise bei § 153 a StPO durch das gerichtliche Zustimmungserfordernis dafür gesorgt ist, daß die Gerichte ihren Standpunkt zur Geltung bringen können (wenn sie es denn wollen !). Problematisch könnte deshalb allein eine in Abweichung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung durch die Staatsanwaltschaft gemäß § 170 Abs. 2 StPO verfügte Verfahrenseinstellung erscheinen, die allenfalls in einem Klageerzwingungsverfahren gerichtlicherseits überprüft werden kann, zu dem es aber nur unter der doppelten Voraussetzung kommt, dass ein individueller Verletzter vorhanden und antragsbereit ist. Insoweit hat sich aber an der Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft und auch an ihrer Machtposition gegenüber früher nichts verändert, so dass es bei den schon bekannten Argumenten sein Bewenden hat.
4. Auch die Frage der Ablehnung eines befangenen Staatsanwalts ist ein Dauerbrenner der strafprozeßrechtsdogmatischen Diskussion, wobei sich die Waagschale in der letzten Zeit deutlich zu Gunsten derjenigen Position neigt, dass zwar ein befangener Staatsanwalt nach § 145 GVG abgelöst werden muß, dass dies aber nur in Ausnahmefällen von einem Verfahrensbeteiligten auch gerichtlich durchgesetzt werden kann. Insoweit liefert nun die Einsicht in die enorm gewachsene Machtstellung der Staatsanwaltschaft und die davon ausgehenden Gefahren für eine unverzerrte Wahrheitsfindung ein starkes Argument dafür, generell die gerichtliche Durchsetzbarkeit der Ablehnung eines befangenen Staatsanwalts nach den §§ 23 ff. EGGVG zu bejahen, denn es geht schwerlich an, dass zwar der Urkundsbeamte nach § 31 StPO wegen Befangenheit abgelehnt werden kann, die Amtsführung eines befangenen Staatsanwalts dagegen als solche hinzunehmen und die Befangenheit nur inzidenter im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung der von ihm getroffenen Maßnahmen geltend zu machen sei. Letzteres scheint mir auch nicht praktikabel zu sein und kann sich bezeichnenderweise kaum auf triftige Beispiele aus der Rechtspraxis berufen, denn wie soll man beispielsweise eine von einem befangenen Staatsanwalt gemäß § 161 a StPO durchgeführte Zeugenvernehmung ungeschehen machen können, wenn doch auch die von einem befangenen, aber noch nicht abgelehnten Richter vorgenommenen Ermittlungshandlungen verwertbar bleiben? Wie soll man gegen eine von einem befangenen Staatsanwalt verfasste, aber vom Abteilungs- oder Behördenleiter unterschriebene Anklageschrift vorgehen? Und was nützt einem Angeschuldigten selbst die Zurückweisung der Anklage durch das Gericht, wenn er etwa vorher schon aufgrund der Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft über die Erhebung der Anklage wirtschaftlich ruiniert worden ist? Oder was soll der Angeklagte machen, wenn ein befangener Staatsanwalt in der Hauptverhandlung die Zustimmung zur gerichtlich angeregten Einstellung verweigert? Ich halte es für indiskutabel, die Stellung der Staatsanwaltschaft durch gesetzliche Veränderungen und Revolutionierungen der Verfahrenspraxis zu der von mir ausführlich beschriebenen Machtposition auszubauen, ohne dem Betroffenen dann wenigstens ein gerichtlich durchsetzbares Recht auf Ablösung eines befangenen Staatsanwalts einzuräumen.
5. Was schließlich das ebenfalls bis in die letzte Faser ausdiskutierte Verhältnis der Staatsanwaltschaft zur Polizei anbetrifft, so ergibt sich aus den von mir angestellten Überlegungen, daß gerade die weitgehend selbständige Bearbeitung der unkomplizierten Ermittlungsverfahren bei leichteren Fällen durch die Polizei, über die im Schrifttum vielfach Klage geführt wird, die Qualität der Abschlußentscheidung des Staatsanwalts nur verbessern kann, weil bei diesem dann nicht infolge der früheren Aufstellung eigener Ermittlungshypothesen der Perseveranz-Effekt ausgelöst worden ist und infolgedessen eine unverzerrte Informationsverarbeitung möglich bleibt. Weil der Staatsanwalt ferner infolge der Verfahrensflut schon rein quantitativ zu einer Selektion der zu erhebenden Anklagen gezwungen ist, wird er sich auch nicht aufgrund eines Schulterschlusseffekts ohne weiteres von der Marschroute der Polizei vereinnahmen lassen. Eine laufende Kontrolle der polizeilichen Ermittlungen auch außerhalb von Zwangsmaßnahmen wäre im übrigen in der Masse der leichteren Kriminalitätsfälle weder möglich noch notwendig, nachdem die Polizei ja ebenso wie der Staatsanwalt auf Objektivität verpflichtet ist und inzwischen etwa auch die gleichen Belehrungspflichten zu erfüllen hat (s. § 163 a Abs. 4 und 5 StPO). Da alle wichtigen Entscheidungen bei der Staatsanwaltschaft verbleiben, hat diese die Ergebnisse ohnehin zu verantworten und kann sich davon auch nicht durch eine Pontius-Pilatus-Haltung distanzieren. Die gegenwärtige Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei scheint mir deshalb ausgesprochen gelungen zu sein, was im Grunde auch die zahlreichen Kritiker zugeben müssten, die bisher keine im Kern substantiell verschiedene und bessere Lösung anzubieten vermocht haben.
V. Desiderate für eine grundlegend neue Ausbalancierung der Verfahrensrollen
Mit diesen knappen Bemerkungen zu den im Schrifttum bisher hauptsächlich diskutierten Einzelaspekten scheint mir zugleich deutlich geworden zu sein, dass auf diesen doch recht beschränkten Feldern keine Lösungen für die Grundfrage gefunden werden können, welche Konsequenzen aus der von mir beschriebenen Transformation der staatsanwaltschaftlichen Machtstellung im Hinblick auf die damit verknüpften Gefahren für die Ausbalancierung der Verfahrensrollen und die davon abhängige Wahrheitsfindung im Strafverfahren gezogen werden müssen. Schärfer formuliert, ist die Schrebergartenidylle der bisherigen Diskussion zur Beantwortung der Strukturfragen außerstande, die sich durch die in den letzten 25 Jahren erfolgte definitive Sprengung der im reformierten Strafprozess geschaffenen Macht- und Rollenverteilung eigentlich von selbst aufdrängen, aber nicht von selbst beantworten. Ich kann dazu nur noch eine flüchtige Skizze, gewissermaßen al fresco gemalt, beisteuern und möchte dies auf zwei Ebenen tun, indem ich zunächst einige bescheidene Sofortmaßnahmen im Rahmen des bisherigen Rollengefüges anspreche und sodann Möglichkeiten für eine erneute Ausbalancierung der durch die übermächtige Stellung der Staatsanwaltschaft inzwischen in eine Schieflage geratenen Rollenstrukturen des Strafverfahrens zur Diskussion stelle.
1. Zunächst einmal müßte man versuchen, die im reformierten Strafprozess zur Kontrolle der staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit geschaffenen Organe auf eine in der Sache selbst greifende, effiziente Kontrolle festzulegen. Beispielsweise könnte man dem Ermittlungsrichter den De-facto-Rückzug auf eine quasi protokollarische Funktion dadurch verwehren, dass man die Vorlage eines unterschriftsreifen Haft- oder Durchsuchungsbefehls durch die Staatsanwaltschaft untersagt, so dass der Ermittlungsrichter den Beschluß und insbesondere auch dessen Begründung anhand der ihm zu übersendenden Akten selbst erarbeiten und dabei naturgemäß im einzelnen selbst prüfen muss. Eine Verbesserung der Kontrolle kann auch auf der Seite des Verletzten durch verschiedene Einzelmaßnahmen erfolgen, etwa durch eine Erleichterung bei den Zulässigkeitsvoraussetzungen für einen Klageerzwingungsantrag und durch ein formalisiertes Anhörungsrecht bei der Opportunitätseinstellung, wobei die Zustimmung dazu aus der Hand des später entscheidenden Gerichts genommen und etwa auf das Oberlandesgericht oder eine eigene Instanz übertragen werden sollte, um das heute oft dominante Motiv, sich einen unangenehmen Prozess zu ersparen, von vornherein auszuschalten.
2. Mit diesen einzelnen Maßnahmen wird man aber noch keine dem reformierten Strafprozeß entsprechende neue Ausbalancierung der Verfahrensrollen erreichen können, die wegen der dargestellten einseitigen Auswirkungen der gegenwärtigen Machtstellung der Staatsanwaltschaft auf die Verarbeitung der Beweisergebnisse unverzichtbar erscheint. Ich habe hierzu verschiedentlich eigene, naturgemäß weiterer Diskussion bedürfende Vorschläge unterbreitet, auf die ich hier verweisen[44] und die ich nur in einem Punkt weiterspinnen möchte:
Die größten Schwierigkeiten bereitet die Ausbalancierung des Perseveranzeffekts, weil das von Schreiber, Schöch und Roxin hierfür favorisierte Modell des Passivrichters, der mit Aktenkenntnis ausgestattet ist, aber die Beweisaufnahme im Regelfall der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung überläßt,[45] nach dem Ergebnis der von mir dazu durchgeführten experimentellen Untersuchungen[46] an den psychologischen Grundbedingungen und deshalb auch am Ergebnis nichts ändert, während die Wiedereinführung einer Jury ungeachtet der wenig rühmlichen Umstände ihrer Abschaffung durch die Emmingersche Notverordnung von 1924 die prozessuale Wahrheitsfindung nicht optimieren, sondern verschlechtern würde[47]. In den von mir zur Informationsverarbeitung in der Hauptverhandlung durchgeführten Experimenten hat sich statt dessen gezeigt, daß diejenigen Richter die besten Ergebnisse in der unverzerrten Verarbeitung (Speicherung und Erinnerung) der Beweisaufnahme erzielten, die die Beweisaufnahme selbst durchführten, jedoch ohne dabei Aktenkenntnis zu besitzen – also das direkte, jeden Perseveranzeffekt ausschließende Gegenmodell zum „Passivrichter“. Als Preis dafür müsste freilich wohl ein Fortfall des Zwischenverfahrens und zumindest eine Einschränkung der richterlichen Aufklärungspflicht hingenommen werden, was aber beides im Hinblick auf die notorisch geringe Selektionswirkung des Zwischenverfahrens und die äußerst niedrige Erfolgsquote der Aufklärungsrüge bei Revisionen[48] nicht außerhalb jeder Diskussion steht. Ich könnte mir deshalb vorstellen, dass dem Angeschuldigten, der ja sonst immer nur reagieren muss, zukünftig die Wahl gelassen wird, ob er ein Zwischenverfahren mit einer dann notwenig eintretenden Aktenkenntnis des später erkennenden Gerichts beantragt oder sich sofort der Anklage in einer Hauptverhandlung stellt, in die das Gericht dann ohne Aktenkenntnis gehen würde. Auch im letzteren Falle könnte dem Gerichtsvorsitzenden durchaus die Vernehmung der Zeugen belassen werden, weil diese ja mit deren Bericht beginnt, aus dem heraus dann das Verhör entwickelt werden kann.
3. Mit diesen wenigen Bemerkungen muß es sein Bewenden haben. Ich bin realistisch genug, um mich über den fehlenden Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung keinen Illusionen hinzugeben[49]. Überdies greift die Dynamik der Europäischen Union immer stärker auch in den nationalen Strafprozeß ein und lässt sich von den Traditionen der deutschen Rechtswissenschaft kaum beeinflussen.[50] Aber das große wissenschaftliche und moralische Vermächtnis von Edda Weßlau, deren Andenken diese kleine Studie gewidmet ist, verbietet es uns, die Rolle des Hofnarren zu spielen und die Transformation des reformierten Strafverfahrens in den in Wahrheit aus den rechtsstaatlichen Fugen geratenen Strafprozess der postmodernen Gesellschaft nur mit ergötzlichen Reden zu begleiten.
[1] Eine perfekte Darstellung und Diskussion findet sich bei Carsten/Rautenberg, Die Geschichte der Staatsanwaltschaft in Deutschland bis zur Gegenwart, 3. Aufl. 2016.
[2] Siehe Roxin, DRiZ 1969, 385 ff.; 1997, 103 ff.; Kintzi, DRiZ 1988, 86 ff.; StA-Schleswig-Holstein-FG 1992; StA-Berlin FG 1996; ferner die Festschriften f. Schäfer (1980), Kleinknecht, Wassermann (1985), Rebmann (1989), Odersky (1996), Meyer-Gossner (2001), Rieß (2002), Hilger (2003), Nehm (2006), Böttcher (2007), Stöckel (2010), Ostendorf (2015) und das Kunert-Symposium (2006).
[3] 45. DJT 1964: Ist die StA an die … höchstrichterl. Rspr. gebunden?; Geisler, ZStW 93 (1981), 1109 ff.; Rüping, ZStW 95 (1983), 894 ff.
[4] Freilich kurz bevor dieser von Adelheid im Schachspiel mattgesetzt wird, II 1.
[5] Denn die Erschließung der preußischen Archive durch Collin („Wächter der Gesetze“ oder „Organ der Staatsregierung“?, 2000) hat den Nachweis erbracht, dass die Einführung der StA jedenfalls in Preußen den Zweck verfolgte, der dem König unterstehenden Exekutive einen Einfluss auf die als politisch unzuverlässig eingeschätzte Justiz zu sichern.
[6] Von dieser Charakterisierung aus GA 1995, 208 brauche ich nach 20 Jahren nicht abzuweichen, im Gegenteil.
[7] Wenn etwa der Vorstand eines deutschen Großunternehmens für ein bis dato ziemlich unbekanntes amerikanisches Zwergunternehmen nach dem Prinzip Hoffnung fast 100 Mrd. DM zu bezahlen bereit war (Fall Telekom) oder kühn durch den kostspieligen Aufkauf großer, aber maroder Partner einen Weltkonzern zu schmieden versuchte (Fall Daimler-Benz) und dabei jeweils viele dutzende Milliarden vom shareholder value verspielt, so mag dies das Pech des Tüchtigen sein, während ein Parteivorsitzender, der den Erfolg seiner Partei mit schwarzen Kassen zu erreichen versuchte (Fall Hessen-CDU), ebenso wie der im Angesicht des drohenden Abstiegs zum Mittel der Bestechung greifende Vorstand eines Bundesligavereins (Fall Arminia Bielefeld), der die Aussichten der Schürfrechte in Kanada allzu rosig darstellende oder eine Internetflause zum Milliardenunternehmen aufblasende Tycoon des grauen Kapitalmarkts und der über ausländische Briefkastenfirmen Milliardengeschäfte mit undurchschaubaren ABS-Papieren tätigende Bankvorstand die Grenze zur Kriminalität überschritten haben mochten.
[8] Nämlich nicht nur als ein für jede Gesellschaft normales Außenseiterphänomen, sondern im Sinne einer wiederkehrenden Episode im Leben jedes angepassten Individuums (dass man als Student einmal schwarz fährt, als Inhaber eines Haushalts die Versicherungsmeldung wegen der zerbrochenen Vase etwas schönt oder als Steuerzahler einen privat veranlassten Beleg als Werbungskosten deklariert, kommt gelegentlich in den besten Familien vor und wird nur dann nicht als bloßer faux pas, sondern als wirklich kriminell empfunden, wenn derartiges Verhalten zur Methode wird) sowie im gesamten Wirtschaftssystem sei es als Mycel in Gestalt der erwähnten borderline-Kriminalität, sei es im innersten Kern in Gestalt der Umweltvernutzung, durch die alltäglich die Überlebensressourcen künftiger Generationen vergeudet werden (zusammenfassend Schünemann, La destrucción ambiental como arquetipo del delito, in: Pérez Alonso u.a. [Hrsg.], Derecho, Globalización, Riesgo y Medio Ambiente, Valencia 2012, S. 429 ff.).
[9] BGHSt 47, 44, 51; 45, 321, 326; 32, 345, 355.
[10] BGHSt 47, 44, 50; 45, 321, 328 ff.; 32, 345, 351; im Kern auch noch BGH StV 2016, 78 (1. StS).
[11] BGHSt 47, 44, 47f.; 45, 321, 337; StV 2000, 604; NStZ 1995, 506, 507.
[12] Furcht v Deutschland v. 23.10.2014, JR 2015, 81 ff. m. Anm. v. Petzsche.
[13] BGH StV 2016, 70 ff.
[14] Erstmals Schünemann, StV 1985, 424, 427 ff.; zust. Greco, StraFo 2010, 57; für abstrakte Gefährdungsdelikte ähnlich von Danwitz, Staatliche Straftatbeteiligung, 2005.
[15] Näher Volk, NJW 1996, 679.
[16] Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 2.3.1974, BGBl. I S. 469, 502; 1. Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts vom 09.12.1974, BGBl. I S. 3393, 3533.
[17] Nachw. b. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 28. Aufl. 2014, S. 81.
[18] Rieß, NJW 1975, 81, 85; Lampe, NJW 1975, 195, 199; Herrmann, JuS 1976, 413, 414.
[19] Die ein Herzstück des reformierten Strafverfahrens und einen gewissen Ausgleich für die in Kapitalstrafsachen fehlende zweite Tatsacheninstanz bedeutete, siehe die Diskussion der Reichstagskommission bei Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen III/1, 2. Aufl. 1885, S. 736 ff.
[20] Die Abschaffung bzw. gewisse Einschränkung des ministeriellen Weisungsrechts, die immerhin in der Schweiz und Österreich als Kompensation vorgenommen worden ist, ist innerprozessual folgenlos.
[21] Vgl. nur die Nachw. b. Roxin/Schünemann (Fn. 17), S. 329 f.
[22] NJW 2002, 815.
[23] Die Staatsanwaltschaft ist deshalb ja auch weithin dazu übergegangen, dem Ermittlungsrichter fertig vorformulierte Beschlüsse in die Unterschriftsmappe zu legen.
[24] Zutr. Lilie, ZStW 111 (1999), 807, 814 f. m.w.N.
[25] Siehe die Nachw. in Fn. 47.
[26] Nachw. b. Rieß DRiZ 1982, 202, 211; Schünemann, Pfeiffer-FS (1988), S. 461, 476. Zum amerikanischen System, s. Schumann, Handel mit Gerechtigkeit, 1977, S. 186.
[27] Grundlegend bereits E. Müller u. a., AnwBl 1986, 50 ff; Richter II, AnwBl 1985, 431; Roxin Strafverfahrensrecht (25. Aufl. 1998), § 37 Rn. 1; Alternativ-Entwurf Reform des Ermittlungsverfahrens (2001), S. 27.
[28] Schünemann, Absprachen im Strafverfahren? Grundlagen, Gegenstände und Grenzen. Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, 1990; ders., FS f. Rieß, 2002, S. 525 ff.; ders., FS f. Heldrich, 2005, S. 1177 ff.
[29] Dazu nach wie vor grdl. Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren - Leitidee für eine Gesamtreform?, 2002.
[30] Dazu Schünemann, Vom Tempel zum Marktplatz, 2013.
[31] Die Diktatur, 2. Aufl. 1928, S. 18.
[32] G